Wenn Moral blind macht
Extremismus – ein Wort, das sofort Alarmglocken läuten lässt. Doch die Reaktion darauf hängt oft davon ab, wer extrem ist.
Rechter Extremismus? Empörung, klare Abgrenzung.
Linker Extremismus? Schweigen, Relativierung.
Und umgekehrt.
Die Wahrheit ist unbequem: Viele Menschen – ob links, rechts oder irgendwo dazwischen – neigen dazu, radikale Tendenzen im eigenen Lager zu verharmlosen, während sie die des Gegners scharf verurteilen. Diese selektive Empörung gefährdet nicht nur die gesellschaftliche Debattenkultur, sondern auch die Demokratie selbst.
Die psychologische Perspektive: Blinde Flecken der Gesinnung
Menschen haben ein tiefes Bedürfnis, sich moralisch auf der „richtigen Seite“ zu fühlen.
- Wer sich als progressiv versteht, will Gutes tun – und übersieht dabei, dass auch „die Guten“ Fanatismus entwickeln können.
- Wer sich konservativ oder patriotisch sieht, wehrt sich gegen gesellschaftliche Bevormundung – und nimmt radikale Strömungen am eigenen Rand nicht immer wahr.
Das Ergebnis: Ein gefährlicher blinder Fleck.
Man sieht den Splitter im Auge des Gegners, aber nicht den Balken im eigenen.
Die politische Perspektive: Ideologie statt Objektivität
Politische Lager neigen dazu, Extremismus nach Sympathie zu gewichten.
- Linke Gewalt wird manchmal als „Aktivismus“ oder „Notwehr gegen Rechts“ etikettiert.
- Rechte Gewalt wird dagegen oft als Ausdruck einer „kranken Gesinnung“ dargestellt – zu Recht, aber ohne zu erkennen, dass Fanatismus keine Ideologie, sondern ein Muster ist.
Beide Seiten legitimieren ihre Radikalen auf ähnliche Weise:
„Die meinen es doch gut.“
„Das sind nur ein paar Ausreißer.“
Doch Extremismus beginnt selten mit Gewalt – sondern mit Intoleranz, Selbstgerechtigkeit und dem Verlust von Empathie gegenüber Andersdenkenden.
Die mediale Perspektive: Schlagzeilen mit Schieflage
Medien spielen eine zentrale Rolle in der Wahrnehmung von Extremismus.
- Manche Redaktionen berichten über rechte Taten mit voller Härte – aber verschweigen oder relativieren linke Gewalt.
- Andere tun das Gegenteil.
Dieser selektive Fokus verstärkt die Polarisierung. Die Bürger und Bürgerinnen verlieren Vertrauen, weil sie das Gefühl haben, dass Berichterstattung nicht nach Wahrheit, sondern nach politischer Passung erfolgt.
Das gefährlichste Resultat: Radikale fühlen sich bestätigt und geschützt, wenn „ihre“ Seite sie nicht klar verurteilt.
Die gesellschaftliche Perspektive: Polarisierung statt Dialog
In einer gespaltenen Gesellschaft wird jede Kritik schnell als Angriff gewertet.
- Wer linksextreme Gewalt kritisiert, gilt als „rechts“.
- Wer Rechtsextreme verurteilt, wird als „linker Gutmensch“ abgestempelt.
So entsteht eine moralische Echokammer, in der echte Auseinandersetzung kaum noch möglich ist.
Aber Demokratie lebt von Widerspruch, nicht von Gesinnungstreue.
Der Weg aus der Sackgasse: Selbstkritik und Maßstäbe
Wenn eine Gesellschaft glaubwürdig gegen Extremismus sein will, muss sie ihn überall ernst nehmen – nicht nur dort, wo er politisch passt.
Das bedeutet:
- Gleiche Maßstäbe für alle Formen von Gewalt und Hass.
- Den Mut, auch die eigene Szene zu hinterfragen.
- Medien, die berichten, statt zu beschönigen.
- Bildung, die zum Denken anregt, nicht zum Nachplappern.
Fazit:
Extremismus ist kein Monopol einer politischen Richtung – er ist das Symptom einer Gesellschaft, die moralische Überlegenheit über Empathie stellt.
Ob links, rechts oder religiös motiviert: Wer Gewalt rechtfertigt, wer Andersdenkende entmenschlicht, verlässt den Boden der Demokratie.
Die wahre Stärke einer offenen Gesellschaft zeigt sich nicht darin, wie laut sie den Gegner verurteilt – sondern wie ehrlich sie sich selbst prüft.
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