BLOG 51: Selbstverletzendes Verhalten und der Zwang, „funktionieren“ zu müssen

Veröffentlicht am 5. November 2025 um 07:55

Wenn Schmerz zum Ventil wird – und Perfektion zur Maske.

Das stille Leid hinter makellosen Fassaden

Auf den ersten Blick scheint alles normal: Die Kollegin, die immer lächelt. Der Schüler, der gute Noten schreibt. Die Mutter, die ihren Alltag diszipliniert meistert.
Doch hinter dieser Fassade tobt bei manchen Menschen ein unsichtbarer Kampf – gegen sich selbst.

Selbstverletzendes Verhalten (SVV) ist mehr als nur ein Symptom psychischer Belastung. Es ist ein stiller Schrei – nach Kontrolle, nach Entlastung, nach einem Gefühl von Leben inmitten emotionaler Leere.
Und paradoxerweise betrifft es nicht nur Jugendliche, sondern auch viele Erwachsene, die „funktionieren“ müssen – beruflich, familiär, gesellschaftlich.

Die psychologische Perspektive: Wenn Schmerz Struktur gibt

Viele Menschen, die sich selbst verletzen, beschreiben den Akt nicht als Wunsch nach Tod, sondern als Versuch, mit unerträglichen Gefühlen zu überleben.

  • Innere Leere, Scham, Angst oder Wut finden keinen Ausdruck.
  • Worte reichen nicht aus – also spricht der Körper.
  • Der Schmerz wird greifbar, kontrollierbar, messbar.

Das Paradoxe:
Der physische Schmerz verschafft kurzfristig Erleichterung – er lenkt ab von emotionalem Chaos. Doch langfristig entsteht ein Kreislauf aus Schuld, Scham und erneutem Druck.

Psychologen beschreiben SVV oft als Bewältigungsstrategie, wenn gesunde emotionale Regulation nicht gelernt oder verlernt wurde.

Die gesellschaftliche Perspektive: Die Pflicht zu „funktionieren“

Wir leben in einer Kultur der Leistung.
Von klein auf lernen wir: „Reiß dich zusammen“, „Du schaffst das schon“, „Bloß keine Schwäche zeigen“.
Doch wer ständig funktioniert, verliert irgendwann den Zugang zu seinen echten Gefühlen.

Menschen, die sich selbst verletzen, tun das oft im Geheimen, aus Angst, nicht mehr als „normal“ zu gelten.
In einer Gesellschaft, die Produktivität über Wohlbefinden stellt, ist kein Raum für psychische Krisen.

Und so entsteht ein gefährliches Doppelleben:
Nach außen stabil, innerlich zerbrochen.
Nach außen erfolgreich, innerlich erschöpft.
Nach außen stark, innerlich hilflos.

Die medizinische Perspektive: Mehr als ein „Jugendproblem“

Selbstverletzendes Verhalten betrifft laut Studien nicht nur Jugendliche – immer mehr Erwachsene greifen zu solchen Handlungen.
Die Ursachen sind vielfältig:

  • Traumatische Erfahrungen (Missbrauch, Verlust, emotionale Vernachlässigung)
  • Psychische Erkrankungen (Depression, Borderline-Störung, Angststörungen)
  • Chronischer Stress und Überforderung

Oft werden die Signale übersehen, weil Betroffene ihre Verletzungen verstecken oder andere, subtilere Formen der Selbstschädigung wählen – etwa Schlafentzug, Essensverweigerung, übermäßige Arbeit oder Selbstkritik.

Medizinisch betrachtet ist SVV ein ernstzunehmendes Warnsignal – nicht nur für psychische, sondern auch für physische Gesundheit.

Die persönliche Perspektive: Zwischen Kontrolle und Hilflosigkeit

Wer sich selbst verletzt, erlebt oft einen inneren Zwiespalt.
Einerseits die Erleichterung nach der Handlung – andererseits die Scham, „es wieder getan zu haben“.
Das Gefühl, versagt zu haben, mischt sich mit dem Wunsch, endlich verstanden zu werden.

Viele Betroffene sagen rückblickend:

„Ich wollte nicht sterben. Ich wollte nur, dass der Schmerz endlich aufhört.“

Und genau hier liegt das tragische Missverständnis:
Selbstverletzung ist kein Ausdruck von Lebensüberdruss – sondern ein verzweifelter Versuch, mit dem Leben fertigzuwerden.

Die gesellschaftliche Verantwortung: Hinschauen statt urteilen

Statt zu verurteilen, sollten wir lernen, hinzusehen.
Selbstverletzendes Verhalten ist kein „Aufmerksamkeitsdrang“, sondern ein Hilferuf – oft von Menschen, die keine andere Sprache mehr finden.

Was helfen kann:

  • Offene Gespräche, ohne Bewertung oder moralischen Druck
  • Therapeutische Begleitung, z. B. durch Traumatherapie oder Dialektisch-Behaviorale Therapie (DBT)
  • Selbsthilfegruppen, um sich verstanden zu fühlen
  • Gesellschaftlicher Wandel, der Emotionen zulässt statt sie zu pathologisieren

Fazit: Wer immer funktionieren muss, verliert irgendwann sich selbst

Selbstverletzendes Verhalten ist ein stilles Echo einer Gesellschaft, die Stärke über alles stellt.
Doch Heilung beginnt genau dort, wo Menschen aufhören, perfekt sein zu wollen – und anfangen, echt zu sein.

Der erste Schritt ist nicht, aufzuhören zu „funktionieren“.
Der erste Schritt ist, sich selbst zu erlauben, nicht mehr perfekt sein zu müssen.

Frage an die Leser:
Wie gehen wir als Gesellschaft mit Menschen um, die „nicht mehr können“?
Wann haben wir verlernt, Schwäche als Teil von Menschlichkeit zu sehen?

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