BLOG 55: Ehrenmorde, Zwangsheiraten und patriarchale Strukturen

Veröffentlicht am 3. Dezember 2025 um 07:55

Diese Tabus werden oft aus Angst vor Pauschalisierung nicht offen benannt

Wenn Kultur zur Grenze des Sagbaren wird

Ehrenmorde, Zwangsheiraten und patriarchale Familienstrukturen sind Themen, die in einer offenen, freiheitlichen Gesellschaft eigentlich klar verurteilt werden müssten.

Und doch sind es Tabus – besonders in politischen Debatten, Medien und sozialen Gesprächen.

Warum?

Weil sie häufig mit bestimmten kulturellen oder religiösen Kontexten in Verbindung gebracht werden.

Und aus Angst vor Pauschalisierung, Rassismusvorwürfen oder gesellschaftlicher Spaltung wird lieber geschwiegen.

Doch Schweigen schützt nicht die Betroffenen.

Es schützt die Täter.

Ein gesellschaftliches Dilemma: Zwischen Sensibilität und Wegschauen

Viele Menschen achten – vollkommen zu Recht – auf diskriminierungssensible Sprache.

Aber daraus entsteht oft eine Angst, Probleme offen zu benennen, weil man nicht den Eindruck erwecken möchte, eine gesamte Gruppe zu verurteilen.

Diese Dynamik führt zu einem paradoxen Ergebnis:

Je sensibler das Thema, desto weniger spricht man darüber.

Doch gerade dadurch entsteht ein Raum, in dem Gewalt weiterbesteht.

Ein Raum, in dem Betroffene allein gelassen werden.

Ein Raum, in dem Täterstrukturen ungestört bleiben.

Ehrenmorde: Gewalt im Namen der „Ehre“

Ehrenmorde sind eine extreme Form patriarchaler Gewalt, bei der Frauen – oft junge Frauen – für vermeintlich „ehrenloses“ Verhalten bestraft werden.

Die Motive reichen von:

  • dem Wunsch nach Selbstbestimmung
  • dem Wunsch, sich scheiden zu lassen
  • der Ablehnung einer arrangierten Ehe
  • Beziehungen, die die Familie nicht toleriert

Das Thema schockiert, aber es wird selten klar ausgesprochen, weil es oft in bestimmten kulturellen Milieus vorkommt.

Doch Fakten ausblenden bedeutet:

Die Opfer bleiben anonym.

Die Strukturen bleiben intakt.

Die Gesellschaft bleibt blind.

Zwangsheiraten: Zwischen Tradition und Menschenrechtsverletzung

Auch Zwangsheiraten werden oft verharmlost oder als „kulturelle Besonderheit“ dargestellt.

Dabei handelt es sich um einen massiven Eingriff in die persönliche Freiheit, der den Betroffenen oft lebenslange psychische und soziale Schäden zufügt.

Viele Betroffene wagen nicht, sich zu äußern - aus Angst vor Gewalt, vor familiärer Ausgrenzung oder vor Abschiebung der Eltern.

Und viele Politiker meiden das Thema - aus Angst, Wählergruppen zu verprellen oder rassistische Narrative zu bedienen.

Doch das Schweigen schützt niemanden.

Es macht verletzlich, wer keinen Schutz hat.

Patriarchale Strukturen: Nicht nur ein „anderes Kulturproblem“

Patriarchale Strukturen existieren weltweit - auch im Westen.

Aber in manchen Herkunftskulturen sind sie tief verwurzelt, religiös begründet oder gesellschaftlich akzeptiert, oft mit klaren Rollenbildern:

  • Männer entscheiden
  • Frauen gehorchen
  • Familie steht über Individuum
  • Kontrolle ist normalisiert

Diese Strukturen widersprechen den Werten einer freien Gesellschaft - Gleichberechtigung, Selbstbestimmung, Freiheit der Partnerwahl.

Wenn darüber nicht gesprochen wird, entstehen Spannungsfelder zwischen:

Menschen, die sich befreien wollen

Familien, die an alten Regeln festhalten

Behörden, die aus Angst vor „kultureller Einmischung“ nicht klar handeln

Psychologischer Blick: Warum Betroffene nicht reden können

Viele Opfer von Zwangsheiraten oder familiärer Gewalt stammen aus Strukturen, in denen Loyalität und Schweigen überlebenswichtig sind.

Sie tragen:

  • Scham
  • Angst
  • Schuldgefühle
  • emotionale Abhängigkeit
  • fehlende Perspektiven

Hinzu kommt die soziale Realität, dass manche Betroffene keinen Ort finden, an dem sie sicher sprechen können - weder in der Familie noch in der Community.

Wenn dann auch noch die Mehrheitsgesellschaft schweigt, entsteht ein doppeltes Schweigen: eins im Inneren und eins im Außen.

Politik und Medien: Zwischen Feingefühl und Blindheit

Die Angst vor Pauschalisierung ist real - und wichtig.

Niemand darf aufgrund seiner Herkunft stigmatisiert werden.

Aber politisch korrekte Zurückhaltung darf nicht so weit gehen, dass Menschenrechtsverletzungen nicht klar benannt werden.

Einige Medien vermeiden das Thema, um nicht in den Verdacht kultureller Vorurteile zu geraten.

Einige Politiker schweigen, weil es unbequem ist.

Einige Aktivisten relativieren, um „die eigene Gruppe zu schützen“.

Doch wahre Solidarität bedeutet:

Opfer schützen – nicht Täter entschuldigen.

Wege aus dem Schweigen: Was jetzt wirklich notwendig ist

Um das Thema verantwortungsvoll zu adressieren, braucht es:

  1. Klare Sprache

Keine kulturellen Relativierungen.

Keine Angst vor unbequemen Wahrheiten.

  1. Schutzräume für Betroffene

Frauenhäuser, Beratungsstellen, anonyme Hotlines, muttersprachliche Unterstützungsangebote.

  1. Aufklärung statt Pauschalisierung

Differenzierte Debatten, die Gewalt verurteilen, ohne Gruppen pauschal abzustempeln.

  1. Selbstkritik innerhalb der Communities

Viele mutige Menschen aus betroffenen Herkunftsgruppen kämpfen bereits gegen patriarchale Gewalt – sie müssen gestärkt werden.

  1. Politische Konsequenz

Wer Freiheit predigt, darf Unterdrückung nicht tolerieren – auch wenn sie „kulturell verpackt“ ist.

Fazit: Das Schweigen ist gefährlicher als das Thema

Ehrenmorde, Zwangsheiraten und patriarchale Strukturen sind keine Randphänomene und kein importiertes „Einzelfallproblem“.

Sie sind Ausdruck tiefer sozialer Konflikte, die offen angesprochen werden müssen.

Nicht, um Vorurteile zu schüren.

Sondern, um Betroffene zu schützen.

Denn wahre Toleranz bedeutet nicht, alles zu akzeptieren.

Wahre Toleranz bedeutet, Menschenrechte konsequent zu verteidigen – egal gegen wen.

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