Wenn Erfolg nicht reicht, um sich gut genug zu fühlen
„Irgendwann merken sie, dass ich eigentlich nichts kann.“
Dieser Satz könnte von einem Einsteiger stammen – doch er fällt oft aus dem Mund von Führungskräften, Wissenschaftlern, Künstlern oder Topmanager. Sie haben Preise gewonnen, Projekte geleitet, Unternehmen gegründet. Und trotzdem glauben sie: Ich bin nicht gut genug. Ich habe das alles nicht wirklich verdient.
Dieses Phänomen hat einen Namen: Impostor-Syndrom (auch Hochstapler-Syndrom genannt). Es beschreibt die innere Überzeugung, dass der eigene Erfolg nur auf Glück, Zufall oder Täuschung beruht – und jederzeit auffliegen könnte.
Warum fällt es so schwer, eigene Erfolge anzuerkennen?
- Gesellschaftlicher Leistungsdruck
In einer Welt, die Leistung, Perfektion und ständige Selbstoptimierung erwartet, wird Erfolg oft mit einem "noch mehr, noch besser, noch schneller" gleichgesetzt. Wer erfolgreich ist, glaubt nicht selten, jetzt erst recht liefern zu müssen – sonst war es vielleicht wirklich nur Glück.
- Sozialisierung und Selbstbild
Viele Menschen (insbesondere Frauen oder Angehörige marginalisierter Gruppen) wurden in ihrer Kindheit und Jugend nicht ermutigt, stolz auf ihre Leistungen zu sein. Stattdessen wurde Bescheidenheit eingefordert – oder Leistungen nur unter Bedingungen anerkannt. Wer gelernt hat, sich klein zu machen, wird später Mühe haben, sich selbst als kompetent zu sehen.
- Vergleichskultur
Soziale Medien verstärken das Gefühl, nie genug zu sein. Wenn man täglich sieht, wie andere „scheinbar mühelos“ alles im Griff haben, während man selbst zweifelt, entsteht leicht der Eindruck: Ich bin der einzige Mensch, der sich so fühlt.
- Der Erfolg als Ausnahme – nicht als Identität
Besonders Menschen, die „erste ihrer Familie“ sind, z. B. im Studium oder in Führungspositionen, kämpfen mit der Vorstellung, nicht dazuzugehören. Der eigene Erfolg fühlt sich wie ein Ausrutscher an – nicht wie ein verdienter Platz.
Die psychische Belastung hinter der Fassade
Das Impostor-Syndrom ist nicht einfach ein bisschen Unsicherheit – es kann chronischen Stress, Angststörungen und depressive Verstimmungen begünstigen. Denn wer ständig befürchtet, aufzufliegen, lebt im emotionalen Hochseilakt.
Betroffene erleben:
- Perfektionismus: Jeder kleine Fehler fühlt sich wie ein Beweis für die eigene Inkompetenz an.
- Selbstsabotage: Aus Angst, zu versagen, meiden viele neue Herausforderungen.
- Vermeidung von Anerkennung: Lob wird abgetan mit „War nur Glück“ oder „Jeder hätte das gekonnt“.
- Einsamkeit: Die ständige Fassade lässt wenig Raum für echte Nähe und Austausch.
Was hilft gegen das Impostor-Syndrom?
- Bewusstsein schaffen
Der erste Schritt ist: Es gibt einen Namen für dieses Gefühl. Du bist nicht allein – Studien zeigen, dass bis zu 70 % der Menschen irgendwann in ihrem Leben Impostor-Gefühle erleben.
- Erfolge dokumentieren
Führe ein „Erfolgsjournal“. Schreibe dir regelmäßig auf, was du geschafft hast, worauf du stolz bist – objektiv und ohne falsche Bescheidenheit. Schwarz auf weiß verliert der Zweifel an Macht.
- Offene Gespräche
Teile deine Gedanken mit anderen – Kolleg:innen, Freund:innen oder in einer Selbsthilfegruppe. Die Erfahrung, dass andere ähnlich empfinden, kann entlastend und heilend sein.
- Mentale Arbeit mit dem inneren Kritiker
Lerne, den Unterschied zwischen gesunder Selbstreflexion und destruktivem Selbstzweifel zu erkennen. Hilfreich ist oft die Arbeit mit inneren Anteilen, z. B. im Coaching oder in der Therapie. Fragen wie „Wessen Stimme ist das in meinem Kopf?“ können Aha-Momente auslösen.
- Grenzen setzen beim Perfektionismus
Nicht alles muss perfekt sein, um wertvoll zu sein. Fehler machen dich nicht weniger kompetent – sie machen dich menschlich.
Was können Führungskräfte und Organisationen tun?
- Kultur der Fehlerfreundlichkeit fördern
- Erfolge im Team sichtbar machen, nicht nur individuell feiern
- Räume für offenen Austausch schaffen (z. B. Mentoring-Programme, Peer-Gruppen)
- Diversität ernst nehmen: Besonders Menschen aus unterrepräsentierten Gruppen brauchen Sichtbarkeit und Anerkennung.
Fazit: Du darfst stolz auf dich sein.
Erfolg ohne innere Anerkennung ist wie Applaus, den man durch eine Glasscheibe hört. Laut, aber unerreichbar.
Wer das Impostor-Syndrom erkennt, kann lernen, sich selbst mit mehr Mitgefühl und realistischem Blick zu begegnen. Der Weg zu einem gesunden Selbstwert beginnt nicht mit noch mehr Leistung – sondern mit dem Mut, innezuhalten und sich selbst zu sagen:
„Ich bin nicht perfekt. Aber ich bin kompetent. Und ich bin hier – nicht zufällig, sondern verdient.“
Frage an dich:
Kennst du dieses Gefühl, als wärst du gar nicht so gut, wie andere glauben? Wie gehst du damit um – oder was hat dir geholfen, aus dem Schatten des Selbstzweifels herauszutreten?
Teile deine Gedanken – vielleicht hilfst du damit jemand anderem, sich weniger allein zu fühlen.
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