Unsichtbar und oft missverstanden
Wenn von Essstörungen die Rede ist, denken viele sofort an Jugendliche, die in der Pubertät mit ihrem Körperbild kämpfen. Doch die Realität sieht anders aus: Essstörungen betreffen längst nicht nur junge Menschen. Auch Erwachsene – Männer wie Frauen – leiden oft still und unsichtbar unter Essverhalten, das zur Qual wird. Und weil die Gesellschaft Essstörungen vor allem mit Jugendjahren verbindet, bleiben Betroffene häufig allein mit ihrem Problem.
Ein Tabu im Erwachsenenalter
Viele Erwachsene sprechen nicht über ihre Essstörung. Zu groß ist die Scham, „in dem Alter“ noch betroffen zu sein. Von außen wird es häufig bagatellisiert: „Das wächst sich raus“ oder „Das ist doch nur eine Phase“. Doch Essstörungen verschwinden nicht automatisch mit den Jahren – sie können chronisch werden und das ganze Leben prägen.
Warum Essstörungen bei Erwachsenen unsichtbar bleiben
- Gesellschaftliche Erwartungen: Erwachsene sollen funktionieren – im Job, in der Familie, im Alltag. Wer dann Probleme mit dem Essen hat, schweigt, um nicht als „schwach“ zu gelten.
- Versteckte Symptome: Anders als bei Jugendlichen sind die Anzeichen oft subtiler. Ein kontrolliertes Essverhalten, ständiges Kalorienzählen oder übermäßiger Sport fallen im hektischen Alltag kaum auf.
- Fehldiagnosen: Körperliche Beschwerden wie Magenprobleme, Müdigkeit oder Gewichtsschwankungen werden oft auf Stress oder Alter geschoben, nicht auf eine Essstörung.
Die Folgen – weit mehr als nur körperlich
Essstörungen greifen tief in alle Lebensbereiche ein:
- Körperlich: Mangelerscheinungen, Herz-Kreislauf-Probleme, dauerhafte Organschäden.
- Psychisch: Schuldgefühle, Depressionen, Ängste und ein gestörtes Selbstwertgefühl.
- Sozial: Rückzug, Isolation und zerbrechende Beziehungen, weil Essen in fast allen sozialen Situationen eine Rolle spielt.
Warum es so schwer ist, Hilfe zu suchen
Viele Betroffene denken: „In meinem Alter ist das doch peinlich.“ Hinzu kommt, dass Beratungsstellen und Kampagnen oft stark auf Jugendliche fokussiert sind. Erwachsene fühlen sich nicht angesprochen – und bleiben dadurch im Verborgenen.
Wege aus dem Schweigen
- Offene Gespräche: Wer im Umfeld Anzeichen bemerkt, sollte sensibel nachfragen – ohne Vorwürfe.
- Spezialisierte Therapien: Essstörungen können in jedem Alter behandelt werden. Wichtig ist ein Ansatz, der auch die Lebensrealität Erwachsener berücksichtigt.
- Selbsthilfegruppen: Der Austausch mit anderen Betroffenen nimmt Scham und zeigt: Man ist nicht allein.
- Gesellschaftliche Aufklärung: Essstörungen dürfen nicht länger auf „Jugendprobleme“ reduziert werden.
Subtile Warnsignale bei Essstörungen im Erwachsenenalter
- Essverhalten
- Häufiges Auslassen von Mahlzeiten („Ich habe keinen Hunger“, „Ich habe schon gegessen“).
- Strenge Essensregeln (nur bestimmte Uhrzeiten, nur bestimmte Lebensmittel).
- Vermeidung von gemeinsamen Mahlzeiten – Einladungen werden oft abgesagt.
- Heimliches Essen oder das Verstecken von Lebensmitteln.
- Auffällig langsames, kontrolliertes Essen oder extremes Schlingen.
- Körper und Gesundheit
- Auffällige Gewichtsschwankungen (nicht immer nur Abnahme).
- Häufiges Frieren, Müdigkeit oder Schwindelgefühle.
- Verdauungsprobleme, Magenbeschwerden oder wiederkehrende Zahnschäden (bei Bulimie durch Erbrechen).
- Übermäßiger Sport, selbst bei Krankheit oder Verletzung.
- Psychisches Erleben
- Übermäßige Beschäftigung mit Kalorien, Diäten und „gesundem“ Essen.
- Ständige negative Kommentare über den eigenen Körper („Ich bin zu dick“, „Ich darf mir das nicht erlauben“).
- Reizbarkeit oder Stimmungsschwankungen rund ums Thema Essen.
- Schuld- oder Schamgefühle nach dem Essen.
- Sozialverhalten
- Rückzug aus dem sozialen Leben – vor allem bei Treffen, die mit Essen verbunden sind.
- Häufige Ausreden, um nicht mit Kollegen, Freunden oder Familie zu essen.
- Vermeidung von Situationen, in denen der Körper sichtbar ist (z. B. Schwimmbad, Sportkurse).
Wichtig zu wissen
Nicht jedes dieser Anzeichen bedeutet automatisch eine Essstörung. Aber wenn sich mehrere Signale über längere Zeit zeigen, lohnt es sich, behutsam nachzufragen oder professionelle Hilfe in Betracht zu ziehen.
Fazit:
Essstörungen bei Erwachsenen sind ein unsichtbares, unterschätztes Problem. Das Schweigen darüber verstärkt nur die Isolation der Betroffenen. Je offener wir das Thema ansprechen und je weniger wir es mit Klischees belegen, desto eher können Erwachsene den Mut finden, Hilfe in Anspruch zu nehmen.
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